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Neonatale Hypoglykämie: Grenzwerte und Folgen bleiben unsicher

02.2016
Prof. E. Harms, Universitäts-Kinderklinik Münster

Was ist ein normaler Glukosespiegel eines reifen Neugeborenen, ab wann ist eine Hypoglykämie behandlungsbedürftig und welche Folgen haben neonatale Hypoglykämien für die Entwicklung? Die Diskussion über diese Fragen zieht sich seit Jahrzehnten hin. Verlässliche Antworten gibt es nicht, lediglich Consensus-Statements, die eine Grenze von 47 mg/dl vorschlagen [1].

Methode: Mit diesen Fragen beschäftigt sich erneut eine Studie aus Neuseeland, in die 404 Neugeborene mit einem Gestationsalter > 35 Schwangerschaftswochen einbezogen wurden. Unter 47 mg/dl wurde als Hypoglykämie, unter 36 mg/dl als schwere Hypoglykämie definiert. Der Blutzucker wurde teils intermittierend, teils auch kontinuierlich mindestens 48 Stunden nach Geburt gemessen.

Ergebnisse: Ein Ergebnis der Studie ist, dass nur die kontinuierliche Messung so definierte Hypoglykämien sicher erfasst. Wurden in der Studie Hypoglykämien festgestellt, wurden Maßnahmen zur Aufrechterhaltung eines Blutzuckers über 47 mg/dl ergriffen (Fütterung, orale Dextrosegabe, intravenöse Glukosegabe). Bei 30% der hypoglykämischen Neugeborenen wurden Blutzuckerwerte unter 36 mg/dl gemessen, für 25% der behandelten Kinder wurde eine Dauer der Hypoglykämie von mindestens 5 Stunden in der ersten Lebenswoche gemessen. Alle Kinder der Studie (mit und ohne Hypoglykämie) wurden im Alter von 2 Jahren extensiv mit den Bailey Scales of Infant Development III (BSID III) untersucht. Dabei ergaben sich keinerlei Hinweise auf eine neurosensorische Entwicklungsbeeinträchtigung der Kinder nach Hypoglykämie, auch nicht unter Berücksichtigung der Häufigkeit und Tiefe der Hypoglykämie-Episoden.

Kommentar: Blutzuckermessungen werden bei Neugeborenen sehr häufig, vielleicht zu häufig durchgeführt, meist ohne klinische Hinweise auf eine Hypoglykämie, sondern eher aus Unsicherheit. Die Studie bestätigt zunächst, dass man sich mit einem Grenzwert von 47 mg/dl auf der sicheren Seite befindet. Unterschreitungen dieses Grenzwerts, auch für einige Stunden, bewirken offenbar keinen bleibenden Schaden.

Möglicherweise ist der kritische Grenzwert doch deutlich niedriger, was u. a. durch alternative Energiesubstrate (Geburtsstress) und eine geringere Empfindlichkeit des neonatalen Gehirns erklärt werden könnte.

Nur sollte man auf keinen Fall alle Hypoglykämien undifferenziert betrachten. Alle Formen von hyperinsulinämischen Hypoglykämien (Neugeborene diabetischer Mütter, konnataler Hyperinsulinismus) sind auch für das Neugeborenengehirn in höchstem Maß gefährlich, da während einer so verursachten Hypoglykämie keine alternativen Energiesubstrate zur Verfügung stehen. Diese Hypoglykämien müssen unbedingt getrennt von der hier besprochenen Studie betrachtet werden.

Referenzen:
[1] Cornblath M, Hawdon JM, Williams AF et al. (2000) Controversies Regarding Definition of Neonatal Hypoglycemia: Suggested Operational Thresholds. Pediatrics 105: 1141-1145.
[2] McKinlay CJD, Alsweiler JM, Ansell JM et al. (2015) Neonatal Glycemia and Neurodevelopmental Outcomes at 2 Years. N Engl J Med 373:1507-1518.